Coronavirus: Darum hat die Impfstrategie der EU versagt
Aufgrund der fehlgeschlagenen Impfstrategie in der EU sehen sich die meisten Länder nun gezwungen, in einen weiteren Lockdown zurückzukehren. Doch wie konnte es dazu kommen?
Im Oktober vergangenen Jahres erklärt die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, dass alle 27 Länder "Zugang zu den vielversprechendsten, in der Entwicklung stehenden Impfstoffen" hätten und dass dies ein "europäischer Verdienst" sei.
Heute, sechs Monate später, gibt es für viele Länder der EU mal wieder keinen anderen Ausweg als einen weiteren Lockdown, denn die Impfstrategie hat versagt.
Das Ziel der EU, bis zum Sommer 70% der Bevölkerung geimpft zu haben, scheint in weite Ferne gerückt zu sein. Aus der Datenbank Our World in Data von der Oxford-Universität geht hervor, dass weniger als 10 Prozent der Deutschen, Franzosen und Italiener bisher ihre erste Impfdosis erhalten haben.
Dahingegen sind bereits 41 Prozent der Briten, 23 Prozent der Amerikaner und 40 Prozent der Israelis mindestens einmal geimpft worden. Außerdem haben die Neuinfektionen in Europa innerhalb der letzten Wochen wieder stark zugenommen.
Dies deutet auf eine dritte Welle hin. In Frankreich ist die Zahl der Neuinfektionen pro eine Million Einwohner von 260 im Januar auf 420 im März gestiegen. Dies zwingt Länder wie Deutschland, Italien und Frankreich, wieder zu strengeren Maßnahmen zu greifen.
Doch warum hat die EU so tragisch versagt? Experten gehen von drei Hauptgründen aus: Langsame Verhandlungen, Lieferschwierigkeiten und widersprüchliche Aussagen des Gesundheitswesens.
Langsame Verhandlungen
Effektive Impfstoffverteilung beginnt mit der Sicherung der Belieferung. In diesem entscheidenden Schritt war die EU langsamer als das Vereinigte Königreich, die USA und Israel.
Grund dafür ist, dass die EU unbedingt niedrige Preise für die Impfdosen aushandeln wollte. Das hat auch funktioniert: Während die UK und die USA rund 19 Dollar pro Dosis zahlen und Israel bei einem noch höheren Preis Pfizer sogar die Daten der Bürger anbot, zahlt die EU nur knapp 15 Dollar pro Dosis.
Allerdings haben die langsamen Verhandlungen der EU dazu geführt, dass sie mit Impfstofflieferungen stark hinterherhinkt. Zusätzlich wurden die Verhandlungen ausgebremst, weil die 27 Länder unterschiedliche Verfahren für den Fall des Medikamentversagens haben.
Daher wurden die Impfdosen in der EU erst später verteilt als in anderen Ländern. In der EU begann die Impfung mit Pfizer erst am 27. Dezember, knapp drei Wochen nach dem Vereinigten Königreich, zwei Wochen nach den USA und etwa eine Woche nach Israel.
Lieferengpässe
Dem Impf-Tracking-System von Bloomberg zufolge ist es der Europäischen Kommission gelungen, Milliarden von Impfdosen bei unterschiedlichen Pharmaunternehmen zu sichern, die für mehr als das Doppelte ihrer Bevölkerung reichen würden.
Doch im Januar sieht sich die EU dann mit Lieferengpässen konfrontiert. BioNtech/Pfizer schraubt die Produktion vorübergehend herunter, um die europäischen Produktionsstätten zu modernisiere.
Frankreich erhält aufgrund von Lieferschwierigkeiten nur knapp ein Viertel der bestellten Moderna-Impfdosen. Obendrein liefert auch AstraZeneca infolge von Produktionsschwierigkeiten nur 40 Prozent der vereinbarten Dosen, sprich 30 statt der 80 Millionen.
Infolgedessen bestellt Ungarn 2 Millionen Dosen des russischen Impfstoffes Sputnik V und eine Million Dosen der chinesischen Vakzine Sinophram, um die Bevölkerung doch noch zeitnah impfen zu können.
Mittlerweile haben dort mehr als 24 Prozent der Bevölkerung mindestens die erste Impfdosis erhalten. Das ist mehr als in jedem anderen EU-Land. Diese beiden Impfstoffe sind in der EU zwar noch nicht offiziell zugelassen, allerdings kann jedes Land selbst entscheiden, welche Mittel es zulässt.
Zu allem Überfluss exportieren die EU-Ländern trotz der Impfstoffknappheit auch noch Impfdosen. Im Januar stoppt die EU-Kommission daher den Export bis Ende März – eine vorübergehende Maßnahme, die mittlerweile bis Juni verlängert worden ist.
Ursula von der Leyen erklärte am 17. März, dass es schwierig sei, den Bürgerinnen und Bürgern zu erklären, warum Impfstoffe, die in der EU hergestellt werden, in andere Länder exportiert würden.
Die Präsidentin der EU-Kommission hatte damit gedroht, den Export in andere Länder zu stoppen, wenn diese selbst nichts von ihren Vorräten teilten.
Beispielsweise wurden 10 Millionen BioNtech-Impfdosen ins Vereinigte Königreich geschickt, während die EU andersherum nichts erhalten hat. Aus diesem Grund verhinderte die Kommission auch den Export von 250.000 AstraZeneca-Dosen von Italien nach Australien.
Ungenutzte Impfdosen
Dem Europäischen Zentrum für Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) zufolge stehen aktuell 14,2 Millionen Impfdosen zur Verfügung, die jedoch nicht verabreicht werden.
Viele Menschen haben aufgrund der widersprüchlichen Aussagen des Gesundheitswesens bezüglich Impfstoffen wie dem von AstraZeneca wohl noch immer Bedenken, sich impfen zu lassen.
Obwohl die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) die Zulassung für den Impfstoff erteilt hat, wurde dieser in Ländern wie Frankreich und auch hier in Deutschland Menschen über 65 anfangs nicht verabreicht, da es nicht genug Informationen zur Wirksamkeit in dieser Altersgruppe gab.
Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte, sie wolle sich nicht mit dem Impfstoff impfen lassen, da sie 66 sei. Beide Länder haben diese Entscheidung mittlerweile verworfen.
Darüber hinaus wurde das Image von AstraZeneca weiter geschädigt, als Thrombosen als mögliche Nebenwirkungen identifiziert wurden. Weswegen der Impfstoff in Deutschland aktuell nur noch über 60-Jährigen verabreicht wird.
Einer Umfrage des britischen Meinungsforschungsinstituts YouGov zufolge ist auch in Frankreich das Vertrauen in den AstraZeneca-Impfstoff von 33 Prozent im Januar auf 23 Prozent gesunken.
Eine neue Pandemie
Die EU-Führungskräfte sind sich einig, dass sie nun alles an die Produktion und Verteilung der Impfstoffe setzen wollen. Sie forderten zudem die Pharmaunternehmen auf, ihre Lieferversprechen einzuhalten.
Auch Angela Merkel hat noch einmal deutlich gemacht, wie kritisch die Lage sei und dass wir uns aufgrund der exponentiell steigenden Fallzahlen auf dem Weg in eine "neue Pandemie" befänden.